Consent Kultur – Was tun wenn’s passiert (ist)?
Consent Kultur entsteht gerade erst, wir erschaffen sie noch – as we go – und bis sie etabliert ist, wird noch Einiges passieren, dass so nicht gewollt ist und war und wurde und wird. Wir lernen. Gemeinsam.
In diesem Blogartikel wollen wir deshalb ein heikles Thema ansprechen: Was tun wenn’s passiert (ist)? Ein Übergriff hat stattgefunden – und das kann tatsächlich jeder Person passieren, da die Handlung oder das Wort gar nicht als Übergriff gemeint sein musste, um als solcher eingeordnet zu werden – und was machen wir jetzt damit? Wie gehen wir damit um?
Dieser Blogartikel bezieht sich nicht nur auf körperliche (sexuelle) Übergriffe, sondern möchte für das Thema allgemein sensibilisieren.
„Ich bin nicht das, was mir passiert ist, sondern was ich beschlossen habe.“ – Carl Gustav Jung
Fehler sind menschlich!
Fehler sind menschlich und unvermeidbar. Selbst wenn wir uns wirklich bemühen, können wir versehentlich andere verletzen, insbesondere in Zeiten, in denen viele Menschen aufgrund von erhöhter Sensibilität und aktuellen Geschehnissen leicht(er) getriggert sind.
Missverständnisse sind menschlich und unvermeidbar. Wie etwas ankommt, muss noch lange nicht mit dem übereinstimmen, wie es gemeint war. Ein Blick, ein Wort, eine Geste, eine Handlung können ganz unterschiedlich wahrgenommen und eingeordnet werden.
Übergriffe sind menschlich und unvermeidbar. Eine liebevoll gemeinte Geste kann als übergriffig eingeordnet werden; eine Entscheidung, die im besten Wissen und Gewissen für eine andere Person getroffen wurde, kann als übergriffig wahrgenommen werden; ein Witz, eine Bemerkung kann als zu weit verstanden werden … „Do not cross line“ immer einzuhalten, ist sehr schwierig, ist nahezu unmöglich, da die Linie bei jeder Person anders aussieht – ja, sich sogar bei der Person je nach Tagesform, Stimmung und Gegenüber verschiebt …
Deshalb stellt sich die Frage, wie wir angemessen reagieren sollen, wenn etwas passiert ist, denn das (uns) etwas geschieht, ist unvermeidlich.
Grenzen sind individuell
Warum unvermeidlich? Weil Grenzen – wo wir sie ziehen und was wir als eine Grenzverletzung einorden – sehr individuell wahrgenommen werden. Deshalb ist es so unsagbar schwer, jede Art von Übergriffen zu vermeiden und zu verhindern.
Mehr dazu, auch zu den Arten von Grenzen, in unserem Blogartikel: „Eine Grenze ist eine Grenze ist eine Grenze – oder nicht?“
Was tun, wenn’s passiert (ist)?
Was tun wenn’s dir passiert (ist)?
Kommunizieren! Kommunizieren! Kommunizieren!
Offen ansprechen, dass etwas merkwürdig, unschön, übergriffig, verletztend oder respektlos war.
Nachfragen, ob etwas merkwürdig, unschön, übergriffig, verletztend oder respektlos war.
Von der Unschuld ausgehen.
Ersteinmal davon absehen, anzunehmen, das es Absicht wahr. Im Zweifel für den Angeklagten und im Zweifel Kommunizieren! Kommunizieren! Kommunizieren!
Wiederholt es sich, dann war und ist es Absicht. Ein erstes Mal kann auch einfach ein Versehen sein, ein Verschätzen, eine kleine Unachtsamkeit – seien wir ehrlich: Wer ist schon die ganze Zeit zu 100 % aufmerksam?
Entspannt bleiben.
Versuchen, die Emotionalität erstmal außen vorzulassen und entspannt zu bleiben. Nicht auf alle Übergriffe reagieren, die im Laufe der Lebensspanne (leider) vorgekommen sind („Schon wieder!“ / „Wieso denken eigentlich alle, dass sie das mit mnir machen können?“ / „Ich hab so die Schnauze voll.“ …) sondern nur auf diesen gerade eben passierten. Jetzt. Hier. Mit dieser Person. Dieser eine Vorfall. (Das ist verdammt schwer, da wir ja eine Lebensspanne voller Übergriffe er- und überlebt haben. Bitte habt hier Mitgefühl und Geduld. Wir alle haben in dieser Hinsicht mehr oder weniger Mist erlebt und manchmal lässt sich nicht vergessen oder beiseite schieben, dass wir soviel Mist erlebt haben. Uns platzt einfach die Hutschnur und dann trifft es vielleicht (sehr wahrscheinlich sogar) die falsche Person.)
Deutlich sein.
Stopp sagen. Sich zeigen. Die Grenze auch noch im Nachhinein setzen: „Du, das war für mich so nicht in Ordnung.“ Sich zumuten mit dieser Grenze. Zu sich selbst stehen mit dieser Grenze. In aller Klarheit.
Riskieren, „schwierig“ und unbequem zu sein.
Schwierig zu sein? Na und??? Deine Grenzen zählen. Sie sind wichtig. Sie erfüllen einen Zweck, sonst wären sie nicht da.
„Lassen wir eine Grenzverletzung zu, vergrößern wir die Wunde der Scham in uns.“ – frei nach Betty Martin
Harmonie und Wiedergutmachung statt Bestrafung in den Mittelpunkt rücken
Was also tun, wenn’s passiert ist?
In einer Consent Kultur (Lies dazu gern unseren Blogartikel: „Revolution Consent Kultur – Lasst uns eine neue Welt erschaffen“), in der die Zustimmung und der respektvolle Umgang miteinander im Mittelpunkt stehen, wird besonderer Wert auf das Wohl der verletzten Person gelegt. Der Fokus liegt darauf, wie diese bestmöglich unterstützt werden kann. Dieses Prinzip teilt Parallelen mit einem System der opferorientierten* Justiz, das darauf abzielt, Harmonie und Heilung in den Vordergrund zu rücken, anstatt auf Bestrafung ausgerichtet zu sein.
In einem solchen System, das auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene darauf hinarbeitet, Verletzungen zu heilen und Beziehungen aufzubauen, geht es nicht in erster Linie darum, Schuldige zu finden und zu bestrafen. Vielmehr geht es um Verntwortung und schafft so Raum für Wachstum und Veränderung. Die gesamte Gemeinschaft engagiert sich aktiv, indem sie gegen gesetzwidriges Verhalten vorgeht, den Opfern Unterstützung bietet und diejenigen, die Schaden verursacht haben, ermutigt, konkret und aufrichtig um Verzeihung zu bitten und Wiedergutmachung zu leisten. Hierbei ist es wesentlich, dass die Entschuldigungen nicht oberflächlich und die Wiedergutmachung keine leere Geste sind, sondern spezifisch und aufrichtig ausfallen. (Kein: „Es tut mir leid, dass du dich so fühlst, weil ich (angeblich) etwas gemacht habe.“)
In einem solchen System werden diejenigen, die andere verletzt haben, zur Verantwortung gezogen, was impliziert, dass Veränderung und Wiedergutmachung möglich sind. Schuldzuweisungen dagegen wirken destruktiv und endgültig und laden nicht dazu ein, die Konsequenzen der eigenen Handlungen zu tragen und aktiv an Lösungen zu arbeiten. „Du bist schuld.“ macht klein. „Du trägst die Verantwortung bzw. bist verantwortlich.“ impliziert das Zutrauen, dass die Person über die Kraft verfügt, das Geschehene wieder gut zu machen oder dies zumindest aufrichtig und mit ganzer Kraft zu versuchen.
In einer Consent Kultur steht im Mittelpunkt, zur Heilung und Harmonie in der Gemeinschaft beizutragen und durch Verständnis und Kooperation für Sicherheit zu sorgen.
*Auch hier: Wir gewöhnen uns erst ab, von „Opfern“ und „Tätern“ zu sprechen. Vieles ist im Wandel und Wandel braucht Zeit.
Bystanders vs. Upstanders
Was tun wenn’s passiert und du bist dabei?
Jenseits von den direkt Beteiligten kann es im Fall von Grenzüberschreitungen, wie verbalen oder tätlichen Übergriffen, weitere Akteur:innen geben, die das Geschehen bezeugen und eine der folgenden Rollen spielen können:
Bystanders: Anwesende / Zuschauer:innen / Dulder:innen / Mittäter:innen / Kompliz:innen / Zeug:innen
Bystanders sind alle Personen, die einen Übergriffen in irgendeiner Form mitbekommen, aber nichts dagegen tun. Ihre Reaktion darauf lässt sich in vier Hauptkategorien aufteilen:
- Unbewusst schließen sie sich verletzendem Verhalten an und machen mit. Aus Angst, selber angegriffen zu werden, wählen sie aus Selbstschutz die angreifende Seite. Gruppenzwang spielt hier eine wichtige Rolle, und sie haben nicht die Kraft oder den Mut, sich gegen die Mehrheit oder die meinungsgebende Person zu stellen. Vielleicht hetzen sie sogar auf.
- Sie machen die Situation schlimmer, indem sie z.B. Aufnahmen des Vorfalls machen, um sie dann mit anderen zu teilen oder indem sie diskriminierendes Material verbreiten. Sie zeigen keinerlei Mitgefühl für die betroffene Person und betrachten das Ganze wie eine Art Show, die sie unterhaltsam finden. Vielleicht lachen sie sogar darüber.
- Sie sind nur mit sich selbst beschäftigt (mit eigenen Anliegen) und lassen das Geschehen an sich vorbeiziehen. Sie sind der Situation gegenüber völlig indifferent und hinterfragen sie nicht.
- Sie fühlen zwar Empathie und machen sich Sorgen um die betroffene Person, unternehmen aber nichts. Meistens, weil sie sich nicht verantwortlich fühlen und eventuell auch davon ausgehen, dass eine andere Person, die dafür zuständig ist oder sich besser damit auskennt, den Vorfall schon melden oder regeln wird. Ihr Beobachten einer Situation, welche für eine andere Person belastend sein könnte, impliziert nicht zwangsläufig, dass sie aktiv Schaden verursachen (es kann sein, dass sie einfach überfordert sind und sich machtlos fühlen, etwas an der Situation zu ändern). Doch ihr Nichtstun sendet die Botschaft, dass sie das Verhalten der Verursacher:innen tolerieren und mit dem angerichteten Schaden einverstanden sind.
Upstanders: Helfer:innen / Unterstützer:innen
- Upstanders dienen als Vorbild und zeigen anderen, was (ihrer Ansicht nach) angemessenes Verhalten ist.
Sie verbreiten keine Nachrichten (auch nicht viral), die andere verletzen könnten. Sie lästern nicht und sprechen nicht schlecht hinter dem Rücken einer Person. Sie benennen, dass das momentane Verhalten des Gegenübers oder der Gruppe nicht angemessen ist. (Ein Beispiel hierfür wäre, wenn in einer Gruppe von Männern von sexuellen Abenteuern geprahlt und dabei schlecht und herabsetzend über Frauen geredet wird. In solch einem Fall, beteiligen sie sich nicht nur nicht an solch einem Verhalten oder dulden es stillschweigend (wie Bystanders), sondern machen ihre Klappe auf und setzen sich dafür ein, dass dieses Verhalten aufhört.)
Wenn sie über etwas besorgt sind (Kampfgeräusche oder Kindergeschrei in der Nachbarwohnung hören, Mobbing oder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz …), schauen sie nicht weg, sondern übernehmen Verantwortung und versuchen sicherzustellen, dass alles in Ordnung ist bzw. kommt.
Upstanders sollten einige wichtige Regeln und Hinweise beachten, um sowohl ihre eigene Sicherheit, als auch die Sicherheit anderer zu gewährleisten. Für gefährliche Situationen, wie z.B. (bewaffnete) Angriffe von (betrunkenen) Personen oder das Beobachten einer Straftat (z.B. Raub) gelten etwas andere Regeln, die wir im Folgenden im Abschnitt „Zivilcourage“ vorstellen.
- Eigene Sicherheit geht vor: Die eigene Sicherheit hat oberste Priorität. Bevor du eingreifst, stelle sicher, dass du dich selbst nicht in Gefahr bringst. Halte angemessenen Abstand und beobachte die Situation aus sicherer Entfernung. Versuche, körperliche Auseinandersetzungen zu vermeiden.
- Beruhige die Situation: Wenn möglich, versuche, die Gemüter zu beruhigen und die Konfliktparteien zu trennen. Ein ruhiges und besonnenes Auftreten kann dazu beitragen, die Situation zu deeskalieren.
- Verwende verbale Kommunikation: Nutze beruhigende und unterstützende Worte, um die Situation zu klären und die Betroffenen zur Kooperation zu bewegen.
- Fokussiere dich auf die Person, die das Ziel des Mobbings/Angriffs ist, anstatt auf die Person, die das übergriffige Verhalten zeigt.
- Rufe Hilfe, wenn nötig: Wenn die Situation zu gefährlich ist oder außer Kontrolle gerät, scheue dich nicht davor, professionelle Hilfe anzufordern. Das kann die Polizei, Feuerwehr oder medizinische Fachkräfte einschließen.
- Sammle Informationen: Wenn es sicher ist, sammle Informationen, wie Zeugenaussagen oder Beweismaterial, die später bei rechtlichen Schritten hilfreich sein könnten.
- Hilfe anbieten: Wenn die Gefahr gebannt ist, biete den Betroffenen deine Hilfe an, sei es durch praktische oder emotionale Unterstützung. Achte dabei auf deine eigenen Grenzen.
- Melde den Vorfall: Informiere die zuständigen Behörden oder andere zuständigen Institutionen/Personen über den Vorfall, damit angemessene Schritte zur Lösung des Problems unternommen werden können.
Zivilcourage
Was tun, wenn’s jemand anderem passiert?
Zivilcourage ist die mutige Bereitschaft, sich in eine Situation einzumischen, in der ungerechtes, unethisches oder bedrohliches Verhalten erkannt wird, um anderen zu helfen und Schaden abzuwenden.
Hier die Hinweise der Deutschen Bundespolizei zum Thema Zivilcourage. Diese sechs Regeln für kritische Situationen sollen zeigen, dass jeder Mensch unabhängig von Alter, Geschlecht, Größe oder Körperbau Hilfe leisten kann, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.
- Helfen Sie, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen
Es geht nicht darum, „den Helden zu spielen“ – schon eine umsichtige Reaktion kann helfen! Schauen Sie nicht weg, seien Sie aufmerksam, sprechen Sie andere (mögliche) Helfende direkt an oder sagen Sie laut, dass Sie Hilfe organisieren. Dies kann bereits dazu beitragen, dass von dem Opfer abgelassen wird. - Fordern Sie andere aktiv und direkt zur Mithilfe auf
Holen Sie sich Hilfe von weiteren Personen. Sprechen Sie den Mann mit der roten Jacke an, der gerade aus dem Geschäft kommt, oder wenden Sie sich an das Zugpersonal. Bitten Sie um Mithilfe. Einer solchen direkten Ansprache kann man sich schwer entziehen. - Beobachten Sie genau und prägen Sie sich Täter-Merkmale ein
Wie sah der:die Täter:in aus? Welche Kleidung trug er:sie? Wohin ist er:sie gegangen? Die Polizei ist auf Unterstützung angewiesen. Oft sind es kleine Details, die dazu beitragen, dass der:die Täter:in zur Verantwortung gezogen werden kann. Nutzen Sie dazu die „Zeugenkarte“ (PDF, 113KB, Datei ist nicht barrierefrei) - Organisieren Sie Hilfe unter Notruf 110
Den gebührenfreien Notruf 110 kann jeder wählen. Sie haben kein Mobiltelefon oder der Telefon-Akku ist leer? Dann bitten Sie eine andere Person, umgehend die Polizei zu verständigen. Wichtig ist es, die Situation kurz und bündig zu schildern:
– Wo ist das Ereignis?
– Wer ruft an?
– Was ist geschehen?
– Wie viele Betroffene?
Warten Sie auch auf eventuelle Rückfragen. - Kümmern Sie sich um Opfer
Erste Hilfe kann lebenswichtig sein! Kümmern Sie sich deshalb unverzüglich um verletzte Personen. Verschaffen Sie sich einen Überblick, wie Sie Hilfe leisten können. Bitten Sie auch andere Personen um Unterstützung. - Stellen Sie sich als Zeuge zur Verfügung
Mit Ihrer Aussage zum Geschehen tragen Sie dazu bei, dass die Straftat umfassend aufgeklärt werden kann.
Sicherheit für Alle
Wir im KuschelRaum stehen für bewusste Berührungen, für bewusste Entscheidungen, besonders was unseren Körper anbelangt. Dazu gehört, die bewussten Entscheidungen unserer Gegenüber zu akzeptieren, zu respektieren und wertzuschätzen.
Wir üben Consent Kultur: Auf unseren Conscious Cuddle Experiences, den Kuschelpartys des KuschelRaum, besonders aber in unseren Workshops.
Workshops zum Thema Consent:
Workshop Consent (online) – Free Content
Workshop „Consent – Wie Einvernehmlichkeit dein Leben bereichert“ als Präsenzveranstaltung mit Angeline & Rubem in Berlin
Workshop „Beziehungsweise Consent – Lebendie Beziehungen gestalten“ als Präsenzveranstaltung mit Angeline & Rubem in Berlin
Wir freuen uns auf dich und das gemeinsame Lernen und Wachsen.