„Ich bin nicht dein Mäuschen!“
– oder wie ich gelernt habe, laut und deutlich Grenzen zu setzen (und mich gut dabei zu fühlen).
Dieser Blogartikel ist ein persönlicher Erfahrungsbericht von Angeline, der Gründerin des KuschelRaums.
Hier beschreibt sie die Entdeckung des Neins – wie ihr Körper gelernt hat, für sich (und für sie) zu sorgen und schneller zu sein als ihr Kopf, der sich immer noch und viel zu oft, mehr um andere als sie selbst sorgt (besonders gern darum, was diese anderen von ihr d e n k e n könnten).
„Nein ist ein vollständiger Satz.“ – Betty Martin (Wheel of Consent)
Mein Leben BC und AC
Es gibt einige Meilensteine in meinem Leben und die Veränderungen, die mit dem immer-älter-und-weiser(haha)-werden einhergehen, sind mal subtiler und mal deutlicher spür- und sichtbar. Es gibt allerdings nichts, was mein Leben so nachhaltig und einschneidend verändert hat, wie die Arbeit im KuschelRaum mit all den Begegnungen, Erfahrungen und Herausforderungen, die mit ihr einhergegangen sind und noch einhergehen. Diese Veränderungen kamen langsam – nach und nach fühlte ich mich immer wohler, war glücklicher, gesünder und zufriedener. Und manchmal waren da auch Momente und Ereignisse, die mir klar zeigten: Quantensprung. YAY! Du hast dich wirklich verändert. Eine diese Veränderungen, wenn nicht die wichtigste, möchte ich hier teilen: Mein Körper katapultiert mich aus der Opferhaltung und ich bin endlich befähigt, laut und deutlich Nein zu sagen – frei von Schuld oder Scham. „Ich bin nicht (mehr) dein Mäuschen!“
In diesem Zusammenhang möchte ich besonders die Kuschelpartys (unsere Conscious Cuddle Experiences) hervorheben. Sie standen am Anfang des KuschelRaums und sie hatten den bisher größten Einfluss auf mich. Ich teile mein Leben daher in BC (before Cuddle Partys, bzw. Conscious Cuddle Experiences) und AC (after Conscious Cuddle Experiences) ein und werde diese Bezeichnungen im folgenden Text und in diesem Zusammenhang nutzen.
Mein Körper katapultiert mich aus der Opferhaltung.
Ich sehe jetzt davon ab, tief in die #metoo-Debatte einzusteigen, aber ich kenne übergriffige Situationen zur Genüge und ich kenne die oft daraus resultierende Opferhaltung: Ich identifiziere mich ausschließlich damit, ein Opfer von (sexueller und diskriminierender) Gewalt zu sein und ich erkenne meine Macht oder Handlungsfähigkeit in der Bewältigung meiner Erfahrungen nicht an. Ich akzeptiere meine Rolle als Opfer und entziehe mich damit meiner Verantwortung für mein Leben. (Yep, hab ich gemacht.)
BC
Etwas, zu dem von mir klar keine Zustimmung gegeben wurde, passiert mit mir und meinem Körper und ich bin nicht in der Lage, dies aufzuhalten. Mein Kopf schaltet sich dazwischen und verhindert, dass ich mich wehre und das ganze stoppe: „Vielleicht meint er* es nicht so, du ordnest das ganz bestimmt falsch ein. / Was sollen die anderen denken? / So schlimm ist es nicht. / Jetzt so ein Fass aufzumachen. …“ Schuld, Scham, Gefühle der Peinlichkeit, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, kurz: der perfekte Opfermodus. Ich bin tatsächlich zum Mäuschen geworden, habe mich wortwörtlich klein gemacht und bin, anstatt mich zu wehren, in die Schreckstarre verfallen.
*Ja, es waren Männer und gendern passt an dieser Stelle nicht zu meinem Erfahrungshorizont. Obwohl natürlich (Warum sagen wir an dieser Stelle natürlich?!? – Das ist es nicht!) auch Frauen übergriffig sind. Auch das habe ich ebenfalls (wenn auch anders) erfahren und ich habe dazu mehrere Berichte aus erster Hand gehört.
AC
Etwas, zu dem von mir klar keine Zustimmung gegeben wurde, passiert mit mir und meinem Körper und noch bevor ich denken kann, greift mein Körper automatisch ein und verhindert so z.B. unerwünschte Berührungen, die mir drohen, aufgezwungen zu werden.
Ich räume meinem Körper ganz selbstverständlich sein Recht auf eine Meinung ein und er nutzt dieses Recht nun zu unser beider Vorteil und springt an und ein, sobald sich etwas nicht richtig und stimmig anfühlt.
UND: Ich fühle mich dafür nicht mehr schuldig. Ich schäme mich nicht mehr, dieses Nein auszudrücken. Ich empfinde es als mein Recht, dies zu tun.
Mein Weg von BC zu AC
Auf den Conscious Cuddle Experiences (den Kuschelpartys des KuschelRaums) habe ich gelernt, die Impulse meines Körpers wahrzunehmen, ihnen zu vertrauen und sie auch zu respektieren. Ich habe wieder und wieder geübt, Nein zu sagen, wenn mir mein Körper eine Grenze signalisierte. Ich habe meinem Körper ein Recht auf Nein eingeräumt und gebe ihm Recht, indem was er fühlt und möchte bzw. nicht möchte. Über die Zeit habe ich dies so oft getan, dass mein körperlich empfundenes Nein zum Automatismus geworden ist, welches sich auch durchsetzt.
An den zwei folgenden Beispielen möchte ich zeigen, was ich damit konkret meine.
Beispiel 1: „NEIN!“
Auf einer Veranstaltung (außerhalb des KuschelRaums) wurde eine Berührungsübung angeleitet. Wir sollten uns durch den Raum bewegen und immer dann, wenn wir auf eine andere Person trafen, in uns hineinspüren und herausfinden, ob unser Körper ein Ja oder ein Nein zu einer kurzen berührenden Begegnung (in diesem Falle eine Umarmung) mit dieser spezifischen Person hat. Die Entscheidung diesbezüglich wurde durch ein verbales Ja oder Nein ausgedrückt. Sagten beide Personen Ja, fand eine Umarmung statt, sagte eine:r von beiden oder beide Nein, fand keine Umarmung statt. Ich machte die Übung, sagte Ja, sagte Nein, umarmte, umarmte nicht. Dann traf ich auf einen älteren Herrn (diese Gott-sei-Dank aussterbende Art von älteren Herren, die daran gewöhnt sind, Neins ganz selbstverständlich zu überhören und zu übergehen). Wir standen voreinander, er sagte Ja, mein Körper entschied sich für Nein und ich sagte das auch. Eigentlich wäre damit alles geklärt und wir wären zu anderen Übungspartner:innen gewechselt, um die Übung fortzuführen. Nicht so dieses Mal: Nach meinem Nein, legte er den Kopf leicht schräg, öffnete seine Arme, kam auf mich zu, mit einer Haltung von „Ach Kleine, komm wir machen das jetzt einfach. Du hast keine Ahnung, was dir sonst entgeht.“ und wollte mich ganz selbstverständlich in seine Arme ziehen und an seine grau behaarte Brust drücken. Er hatte mein Nein und somit mich, weder ernst genommen noch respektiert und das in einer Übungssituation, in der es unter anderem genau um diesen Punkt ging.
BC
Ich hätte diese Umarmung einfach über mich ergehen lassen. Ich hätte den Kopf zur Seite gedreht, den Atem angehalten und irgendwie ausgeharrt, bis er mich hätte gehen lassen. Ich hätte steif in der Umarmung gestanden, vielleicht sogar halbherzig zurückumarmt, es eklig gefunden, gehofft dass es schnell vorbei ist, und wäre danach sowohl auf mich, als auch auf diesen Mann sehr wütend gewesen. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, nach meinem ersten Nein, erneut Nein zu sagen und zu mir und meiner Grenze zu stehen.
AC
Mein Körper hat mich in dieser Situation gerettet und genau dies verhindert. Er sprang automatisch an und war einfach schneller als mein Kopf, der noch in alten Mustern verhaftet Dinge gedacht hätte wie: „Ist doch nicht so schlimm. Reiß dich halt zusammen. Kannst du ihm doch schenken. Vielleicht denkt er, dass du total verklemmt bist oder ängstlich. Vielleicht fühlt er sich abgelehnt und ist eigentlich ganz nett und du tust ihm gerade unrecht. Du kannst es doch ausprobieren und ihm einen Gefallen tun.“ Doch dazu hatte mein Kopf keine Zeit, mein Körper war schneller. Meine Arme fingen die Arme des Mannes quasi im Fluge auf und stoppten sie in der Bewegung. Ich griff seine Unterarme drückte sie mit Kraft nach unten, schaute ihm in die Augen und sagte laut und deutlich erneut „Nein“. Es fand keine Umarmung statt. Für mich ein Meilenstein. (Yay mit Luftsprung!)
Was dann? Er hat es weggelacht (ich glaube, er war überfordert), die ganze Situation ins Lächerliche gezogen und mich Gott-sei-Dank, den ganzen Abend nicht mehr beachtet (Win Win). Mir war die Heftigkeit kurz peinlich (noch Teil des alten Musters), und dann überkam mich große Dankbarkeit für meinen Körper, der für mich eingestanden war. Ich fühlte mich kraftvoll, mutig und unverwundbar. Ich war stolz auf mich. Ich war froh, Nein gesagt zu haben. Ich war froh, mich zugemutet zu haben. Ich war stolz, diesem Mann die Stirn geboten zu haben, der mein übergangenes Nein und die daraus resultierende aufgezwungene Umarmung wahrscheinlich nicht als übergriffig, sondern als normal und nett gemeint eingeordnet hätte.
„Als ich das erste Mal hergekommen bin, war mein größtes Problem das Neinsagen. Mir ist aufgefallen, dass ich mittlerweile richtig gut Nein sagen kann. Und jetzt weiß ich, was als Nächstes dran ist: Wieder zu lernen, Ja zu sagen.“ – Teilnehmer:in mehrerer Conscious Cuddle Experiences
Beispiel 2: „Ich bin nicht dein Mäuschen!“
Nach all diesen Kuschelpartys mit bewussten Entscheidungen über Begegnungs- und Berührungs-Jas und –Neins, ist mein Körper mittlerweile einfach daran gewöhnt, Wünsche oft und Grenzen immer respektiert zu finden. Und dies überträgt sich mittlerweile auch auf übergriffige oder herablassende berührungsfreie Ereignisse: Ich lasse mir nicht mehr alles bieten.
Ich war in einem kleinen Kiosk und wartete darauf, bezahlen zu können. Ein Mann war noch vor mir dran. Er stand schon an der Kasse, als ihm einfiel, das er noch etwas vergessen hatte. Also gab er seinen Platz auf. Da ich nur einen Artikel hatte, lud mich der Verkäufer dazu ein, schnell zu bezahlen, ohne an der Reihe zu sein. Ich ging also vor. In dem Moment kam besagter Mann zurück und hatte von der Einladung des Verkäufers nichts mitbekommen. Er reagierte sauer und sagte zu mir: „Ich bin dran, Mäuschen.“ (Natürlich hat er das Recht zu äußern, dass er nicht möchte, dass sich jemand vordrängelt. Aber in diesem Fall würde ein „Verzeihung, ich bin dran.“ reichen.)
BC
Ich wäre zur Seite getreten und hätte mich entschuldigt. Und ich hätte mich hinterher tierisch geärgert über diesen Arsch: „Was nimmt er sich raus, mich so zu betiteln.“ und auch über mich: „Warum hast du nichts gesagt und dich weggeduckt?“
AC
Ich holte einfach tief Luft und sagte seeehr laut und bestimmt: „Ich bin nicht dein Mäuschen. Wie redest du mit mir?!?“ und das mit Augenkontakt. WOW!
Zugegeben, es war etwa zu laut und noch leicht hysterisch – mehr Klarheit wäre noch besser gewesen … aber was für ein Unterschied zu alten Mustern. Ich bin weder aus- noch zurückgewichen, ich habe einfach deutlich eine Grenze gesetzt. Er startete einen halbherzigen Gegenangriff, von wegen nicht so empfindlich zu sein, bla… und ich hätte mich leicht in eine Diskussion reinziehen lassen können, über die unterschiedliche Wahrnehmung in Bezug auf das Setzen von Grenzen, wenn Männer es tun (stark, durchsetzungsfähig, Führungsqualität) und Frauen (emotional überfordert, anstrengend, hysterisch), aber warum? Reine Zeitverschwendung, ich werde ihn nicht bekehren.
Ich war einfach happy.
Wie auch im ersten Beispiel hatte mein Körper entschieden und mir keine Zeit gelassen, für das alte Muster: „Bitte übersieh mich und tu mir nicht weh.“ Stattdessen war ich für mich eingetreten: „Ich bin nicht dein Mäuschen. Nie wieder!“ Ich war und bin stolz auf mich.
Mein Weg der Veränderung
Auf den Conscious Cuddle Experiences üben wir nicht nur Nein zu sagen, wir laden auch dazu ein, sich für empfangenen Neins zu bedanken, denn die Nein-sagende Person hatte den Mut, sich mit ihrem Nein zu zeigen, eine Grenze zu setzen und sich zuzumuten. Damit impliziert hat sie auch das Vertrauen, dass die Nein-empfangende Person mit diesem Nein umgehen kann und dass diese sich weder umbringen, noch zutiefst verletzt Konsequenzen ziehen wird: „Dann kuschel ich nie wieder mit dir. / Dann bin ich nicht mehr dein:e Freund:in.“
Wir üben den achtsamen Umgang miteinander, nehmen nicht mehr an, zu wissen, was die andere Person möchte oder nicht, üben klare Kommunikation und stellen dabei uns selbst in den Mittelpunkt. Dabei geht es nicht um ein narzistisches Make-me-great-again, sondern um ein Ja zu mir selbst, welches dann ein wunderbarer Ausgangspunkt dafür ist, ein Geschenk für unsere Mitmenschen zu sein – achtsam, aufmerksam und mitfühlend.
Fazit
Ich habe gelernt (und bin noch dabei) meine Neins zu fühlen und auch auszudrücken – sofort. Ich überlege nicht mehr, ich schäme mich nicht mehr, ich handle instinktiv. Mein Körper ist schneller geworden, als mein Kopf. Ich habe immer weniger Angst vor den Konsequenzen meiner Neins, denn ich habe festgestellt, dass ich mit ihnen wesentlich besser leben kann, als mit dem wiederholten Übergehen und Ignorieren meiner Neins.
Die Folge davon ist, dass ich mich immer mehr auf mein Nein verlassen kann. Das Vertrauen, dass ich mir selbst entgegenbringe, wächst und dadurch auch meine Offenheit und mein Mut, mich in neue Situation zu begeben.
(Übrigens gibt es Menschen, die durchaus Mäuschen zu mir sagen dürfen, aber dies sind andere Geschichten und andere Umstände.)
Meine Empfehlung für dich
Suche dir Räume, in denen du dein Nein entspannt üben kannst. Im familiären Umfeld oder beruflichen Kontext kann es ungleich schwerer sein, diese neue Verhaltensweise einzuüben. Höchstwahrscheinlich bekommst du Gegenwind, denn für deine Mitmenschen ist es gewohnter bzw. viel bequemer, wenn du so bleibst, wie du bist. Suche dir also erstmal Räume, in denen dein Nein keine großen Konsequenzen nach sich ziehen kann, denn spürst du jedesmal Widerstand (Vorwürfe, Verwunderung, Abneigung), wirst du das Experiment aus Angst vor diesen Konsequenzen vielleicht nicht fortsetzen. Ein möglicher Raum wäre, genau wie bei mir, der Besuch von Kuschelpartys, denn die Konsequenzen von deren Teilnehmer:innen (Fremden) werden dein Leben wahrscheinlich wesentlich weniger beeinflussen, als die Konsequenzen, von Menschen, mit denen du dein Leben verbringst. Du bist unabhängiger von ihnen, da ihr nach der Kuschelparty wieder getrennter Wege geht. Auch sind die (Re-)Aktionen diesen Kontext betreffend weniger emotional aufgeladen, weil ihr keine gemeinsame Historie teilt und keine alten Verletzungen zwischen euch getriggert werden können. Suche dir also Räume, in denen die Reaktion auf deine neuen Neins gar nicht bzw. nur sehr gering emotional aufgeladen ist, denn in solch einem Umfeld lassen sich Neins wesentlich entspannter üben.
Gib dir Zeit. Bei mir hat es fast zwei Jahre des steten Übens gedauert, aber es hat sich gelohnt. Es ist ein wirklich schönes, beruhigendes und bestärkendes Gefühl zu wissen, dass ich mich auf meinen Körper verlassen kann. Dass er auf sich selbst und auch ein Stück weit auf mich aufpassen kann und Neins wesentlich besser durchsetzt, als noch vor einigen Jahren. Nein zu sagen, hat mich verändert. Wieder und wieder Nein zu sagen, hat mich verändert. Kuscheln hat mich verändert.
„Ich merke, dass ich immer besser Nein sagen kann. Und ich merke, dass da meistens ein ganz schlechtes Gewissen dabei ist und dass bei mir weiterhin der Film anspringt: „Oh oh, die andere Person fühlt sich durch mich abgelehnt. Und dann geht es ihr schlecht.“ Und wenn es anspringt, dieses Muster, dass ich sofort noch zurückrudern will und dagegen kämpfen muss, bei dem Neuen zu bleiben.“ – Teilnehmer:in mehrerer Conscious Cuddle Experiences
Trau dich! Du hast eine Recht auf Neins! Genauso wie du ein Recht auf entspannte Jas aus vollem Herzen hast. Und diese Jas werden um so mehr kommen, desto sicherer du dir deiner Neins wirst. Deine Jas werden wirkliche Geschenke werden, weil in ihnen keine heimlichen Neins mehr versteckt sind. Deine Jas werden sich für dich und für andere viel klarer und bedingungsloser anfühlen und freudvolle Jas sein.
Entdecke hier unsere Conscious Cuddle Experiences. Wir arbeiten daran, dass es sie bald in jeder Gegend des deutschsprachigen Raums gibt. Und wer weiß, vielleicht bist du inspiriert, sie selbst anzubieten? Dann schau dir gern unser Ausbildungsprogramm an.
Die Zitate in diesem Blog sind alle „Zitate des Moments“. So nennen wir Äußerungen von Teilnehmer:innen der Conscious Cuddle Experiences im Abschlusskreis (vor Zeugen).